Die Hemminger Kirchenglocke und die katholische Friedensarbeit
Die Glocke der Kirchengemeinde St. Georg in Hemmingen hing vor rund 80 Jahren in Willmersdorf dem heutigen Věřňovice – Dolní Lutyně in der Tschechischen Republik. Dort wurde sie im II. Weltkrieg abgehängt und sollte für die Kriegswirtschaft eingeschmolzen werden. Bischof Dr. Gebhard Fürst sieht die Hemminger Glocke, wie auch weitere sogenannte „Leihglocken“ im Bistum, durch ihre außergewöhnliche Geschichte als ein wichtiges Symbol des Friedens und der Völkerverständigung. Das Projekt „Friedensglocken“ ist ein kleiner Beitrag katholischer Friedensarbeit für ein auf Dauer versöhntes und friedvolles Europa.
Die Geschichte der Hemminger Kirchenglocke könnte den Stoff für einen Abenteuer- oder Kriminalroman liefern. Die Reise der Glocke ist spannend und lässt einen staunen, sie ist aber auch tragisch und traurig. Bischof Dr. Gebhard Fürst möchte alles dafür tun, dass diese ungewöhnliche Geschichte glücklich zu Ende geht. Um zu verstehen wovon die Rede ist, müssen wir in der Geschichte unserer Kirchengemeinde rund 80 Jahre zurückblicken.
Der Hintergrund ist nämlich folgender: Die Glocke von St. Georg in Hemmingen stammt aus Willmersdorf dem heutigen Věřňovice – Dolní Lutyně. Diese Glocke ist mit einem Gewicht von 30 Kilogramm und einem Durchmesser von 39 Zentimetern eher klein. Sie wurde 1779 vom Gießer Franz Stancke aus Troppau/Opava gegossen. Rund 140 Jahre hat die Glocke daraufhin in dem idyllischen Willmersdorf geläutet. 1944 wurde sie auf Anordnung der Nationalsozialisten für die so genannte „Kriegsführung auf lange Sicht“ vom Dach der damals wie heute schmucken Kapelle St. Isidor abgehängt und nach Hamburg abtransportiert. Als Metallressource für die Kriegswirtschaft drohte ihr das Schicksal, eingeschmolzen zu werden; genauso wie rund 100.000 anderen Glocken aus allen Teilen des Dritten Reichs und den von ihm besetzen Gebieten. Das nationalsozialistische Regime wusste um die tiefe emotionale Verbindung der Menschen mit ihrem Geläut. Man kann davon ausgehen, dass nicht nur das Glockenmetall von Interesse war, sondern die Kirchen bewusst stumm gemacht werden sollten, um die Menschen dem Glauben zu entfremden.
Ungefähr 80 % der von den Nazis für ihre kriegerischen Zwecke beschlagnahmten Glocken wurden für die Waffenindustrie eingeschmolzen. Auch durch die katastrophale Lagerung oder beim Transport, bei einem Bombenangriff oder durch Metalldiebe wurden Glocken vernichtet. Nur ungefähr jede fünfte Glocke hat den Krieg überstanden und wurde wieder an ihre Heimatgemeinde zurückgegeben. Die kleine Glocke in Hemmingen dagegen hat zwar alle Gefahren überstanden, musste aber noch jahrelang auf dem sogenannten „Hamburger Glockenfriedhof“ bleiben. Wie die meisten anderen 1300 von den Nationalsozialisten aus den damaligen „deutschen Ostgebieten“, den heutigen osteuropäischen Staaten Polen, Tschechien und der Slowakei mitgenommenen Glocken, hätte auch sie an die ursprüngliche Pfarrei zurückgegeben werden können, wenn nicht wieder die Machtpolitik dazwischen gekommen wäre. Der Kalte Krieg der Nachkriegszeit, in dem sich zwei feindlich gesinnte Militärbündnisse in Mitteleuropa gegenüberstanden, war der Grund dafür, dass diese 1300 Glocken auf dem Lagerplatz bleiben mussten. Zum einen waren der Lagerraum und die Bewachung der Glocken in Hamburg für die Kirche in der damaligen Zeit zu teuer, zum anderen sehnten sich die Gläubigen in den zahlreichen neu erbauten oder beschädigten Kirchen in Westdeutschland sehnlichst nach einem Geläut. Deshalb kamen Mitte der 50er Jahre schließlich auch diese Glocken leihweise an Kirchengemeinden im damaligen Westdeutschland. Daher kommt auch der Name „Leihglocke“ für diese Glocken. So wurde auch die Willmersdorfer Glocke über die Vermittlung des Bischöfl ichen Ordinariats nach Hemmingen verliehen. Dort war die Freude vor allem der heimatvertriebenen Katholiken groß. Viele von ihnen stammten aus dem ehemaligen „österreichisch Schlesien“, wo die Kapelle St. Isidor steht.
Seit 1959 erfüllt die Glocke in der neuerbauten Kirche St. Georg wieder ihre Bestimmung und ruft unsere Gemeinde zum Gebet. Sie begleitet nicht nur uns Katholikinnen und Katholiken, sondern alle Hemminger klangvoll über die Jahre. Es ist fast ein kleines Wunder, dass die kleine Glocke wieder friedlich läuten darf. Um ein Haar hätte das Metall dieser geweihten Kirchenglocke mittelbar zur Vernichtung von Menschen im Weltkrieg beigetragen. Für einen Gläubigen Christen ist das ein beinahe unerträglicher Gedanke, denn diese Kirchenglocke ist im Vertrauen auf den Glauben an Jesus Christus gegossen und geweiht. Der Stifter der Glocke, ein Iacob Kaluska, hat das Relief seines Namenspatrons des Hl. Jakobus auf einer Seite anbringen lassen, während auf der anderen Seite ebenfalls mit einem Relief der beiden Apostel auf Latein steht: „Heilige Märtyrer Johannes und Paulus, bittet für uns.“ Diese Fürbitte macht schon deutlich, dass nicht eigentlich der Gegenstand der Glocke im Mittelpunkt steht, sondern die mit ihr verbundenen Lebenswege unzähliger Menschen.
Die Glocke steht für die Hoffnung, den Glauben, die Zuversicht und auch das Heimatgefühl der Menschen, die sie begleitet hat, ebenso wie für das grauenhafte Leiden dieser Menschen durch den II. Weltkrieg, den Terror zweier Diktaturen, Not und Vertreibung. Als durch den Krieg entführte und danach verliehene Glocke ist sie auch ein Symbol dafür, wie sich Menschen mit unermüdlichem Fleiß nach dem Krieg wieder eine Existenz aufgebaut haben, aber sie ist gleichzeitig eine Folge dieses Kriegs, die nach so vielen Jahren noch immer nicht abschließend geregelt ist.
Leid und Gewalt des Weltkriegs haben sich viel zu oft so tief in die Herzen eingegraben, dass noch die Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration in Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland Misstrauen und Vorurteile füreinander empfinden. Dabei ist schon bald nach dem Krieg Bahnbrechendes für die Versöhnung und den Frieden zwischen den Völkern begonnen worden:
Der sogenannte „Brief der polnischen Bischöfe von 1965“, den besonders der Heilige Johannes Paul II noch als Kardinal und der Breslauer Kardinal Kominek verfasst haben, ist ein außergewöhnliches Zeugnis katholischer Friedensarbeit, die bis heute fortwirkt. Vor Jahrzehnten war dieser Brief, der dazu aufruft, den Hass des Krieges im Vertrauen auf Jesus Christus zu überwinden, ein Skandal. Heute nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich gezeigt, wie prophetisch diese Botschaft war: Eine Bewegung brachte über den Eisernen Vorhang hinweg Menschen zusammen, so nachdrücklich, dass schließlich auch die politischen Eliten aus Ost und West nachzogen. Damals begann ein Weg der Versöhnung und Freundschaft, der Mut dazu macht, im Streben nach dem Frieden nie nachzulassen. Dieses Vorbild des polnisch-deutschen Briefwechsels nahmen dann auch 1990 die tschechischen Bischöfe zum Anlass, mit den deutschen Bischöfen einen Weg der Versöhnung und der gemeinsamen europäischen Zukunft in Frieden zu gestalten. Nach der Überzeugung von Bischof Dr. Gebhard Fürst ist dieser im Herzen vom Glauben an die Geschwisterlichkeit aller Menschen in Jesus Christus getragene Friedensprozess ein Vorbild für das gemeinsame Haus Europas und soll weiter geführt werden.
Einen weiteren Schritt auf diesem Weg will deswegen das Projekt „Friedensglocken“ gehen, zu dem auch die Hemminger Glocke gehört. Dabei geht es sowohl um die Bewältigung der Vergangenheit als auch um die Gestaltung der Zukunft. Die Hemminger Glocke könnte zu einer „Friedensglocke“ werden. Sie könnte der Anlass sein, aus dem sich unsere Gemeinde und die tschechischen Glaubensgeschwister begegnen, kennenlernen und so stellvertretend für viele aus dem Glauben heraus ein Stück friedvolle Zukunft für Europa mitgestalten.
Eine Möglichkeit kann auch sein, die „Leihglocke“, wenn das jeweils sinnvoll und vom Kirchengemeinderat gewollt ist, in die Herkunftsgemeinde zurückzubringen. In diesem Fall wird der Kirchengemeinde der finanzielle Aufwand für den Ausbau der Leihglocke, den Guss einer neuen Glocke und deren Einbau erstattet. Auch die neue Glocke soll neben den besonderen Anliegen der Pfarrei zu einer Friedensglocke geweiht werden. Vor allem auch Begegnungen und Initiativen, die mit Menschen in der Tschechischen Republik entstehen sollen und der Friedensarbeit dienen, werden finanziell und inhaltlich unterstützt. Bischof Fürst würde sich sehr freuen, wenn auch aus Hemmingen eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert würde. Bischof Fürst schreibt dann seinem Amtsbruder in Ostrau-Troppau und bittet um eine Einschätzung vor Ort und einen Kontakt in die Herkunftsgemeinde der Glocke.
Mit dem Projekt „Friedensglocken“ will Bischof Fürst erreichen, dass die Situation um die „Leihglocke“ zumindest ins öffentliche Bewusstsein kommt und nicht einfach weiter in Vergessenheit gerät. Vielleicht aber baut unser gemeinsames Tun 75 Jahre nach dem Kriegsende ein kleines Stück weiter am gemeinsamen Haus Europa, indem es Christen über Grenzen hinweg dazu ermutigt, das zu sein, was sie sind: Schwestern und Brüder in Christus. Sie sind schon jetzt herzlich eingeladen mit zu tun!
(Text: Frederic-Joachim Kaminski)
Liebe Gemeindemitglieder! Der Kirchengemeinderat ist grundsätzlich offen für dieses Projekt, möchte aber erst nach Rückmeldungen aus der Gemeinde eine Entscheidung treffen. Wenn Sie Ihre Meinung kundtun wollen, sagen oder schreiben Sie diese gerne einem Mitglied des Kirchengemeinderats oder Herrn Pfarrer Ott.